Weitere Signor-Veneranda-Texte als Unterlagen für Entwürfe von inneren Monologen
Aus: Carlo Manzoni. 100 x Signor Veneranda. Müncehn: dtv, 1976.
Der Hausschlüssel
Herr Veneranda blieb vor einer Haustür stehen, betrachtete die dunklen geschlossenen Fensterläden und pfiff mehrmals, als wolle er jemanden rufen.
An einem Fenster des dritten Stockes erschien ein Herr.
„Haben Sie keinen Schlüssel?“, schrie der Herr, um sich verständlich zu machen.
„Nein, ich habe keinen Schlüssel“, schrie Herr Veneranda.
„Ist die Haustür zugeschlossen?“, schrie der Herr am Fenster wieder.
„Ja, sie ist zu“, antwortete Herr Veneranda. „Dann werfe ich Ihnen den Schlüssel hinunter.“
„Wozu?“, fragte Herr Veneranda.
„Um die Haustür aufzuschließen“, erwiderte der Herr am Fenster.
„Also gut“, schrie Herr Veneranda. „Wenn Sie wollen, daß ich die Haustür aufschließe, dann werfen Sie mir nur den Schlüssel herunter.“
„Aber müssen Sie denn nicht herein?“
„Ich? Nein. Wozu auch?“
„Wohnen Sie denn nicht hier?“, fragte der Herr am Fenster, der nicht mehr recht mitkam.
„Ich? Nein“, schrie Herr Veneranda zurück, „Und warum wollen Sie dann den Schlüssel?“
„Wenn Sie wollen, daß ich die Tür aufschließe, muss ich sie doch mit dem Schlüssel aufschließen. Glauben Sie vielleicht, ich könnte es mit einer Pfeife?“
„Ich will gar nicht, dass die Tür aufgemacht wird“, rief der Herr am Fenster. „Ich meinte, Sie wohnten hier: Ich hörte Sie pfeifen.“ – „Pfeifen denn alle, die hier im Haus wohnen?“, erkundigte sich Herr Veneranda mit voller Lautstärke. „Nur wenn sie keinen Schlüssel haben“, antwortete der Herr oben am Fenster.
„Ich habe keinen Schlüssel“, schrie Herr Veneranda.
„Dürfte ich vielleicht wissen, was diese Schreierei zu bedeuten hat? Man kann dabei kein Auge zutun“, brüllte ein Herr, der sich an einem Fenster des ersten Stockes zeigte.
„Wir schreien, weil sich der Herr dort im dritten Stock befindet und ich auf der Straße stehe“, sagte Herr Veneranda. „Wenn wir leise sprechen, können wir uns nicht verständigen.“
„Aber was wollen Sie denn?“, fragte der Herr, der im ersten Stock am Fenster stand.
„Das müssen Sie den Herrn im dritten Stock fragen“, sagte Herr Veneranda. „Ich habe es noch nicht herausbekommen: zuerst will er mir den Hausschlüssel herunterwerfen, damit ich die Haustür aufschließe, dann will er wieder nicht, dass ich die Haustür aufschließe, dann sagt er, dass ich, wenn ich pfeife, in diesem Haus wohnen müsse. Kurzum, ich habe es noch nicht herausbekommen. Pfeifen Sie übrigens?“
„Ich? Nein. Wieso sollte ich pfeifen?“, fragte der Herr am Fenster des ersten Stockes.
„Weil Sie in diesem Haus wohnen“, sagte Herr Veneranda. „Der Herr im dritten Stock hat gesagt, dass die Leute, die in diesem Haus wohnen, pfeifen. Mir ist es jedenfalls einerlei: meinetwegen können Sie ruhig pfeifen.“
Herr Veneranda verabschiedete sich mit einer leichten Verbeugung, ging seines Weges und murmelte vor sich hin, dass dies bestimmt eine Art Irrenanstalt sein müsse.
Das Mottenpulver
Herr Veneranda ging in eine Drogerie. „Verzeihung“, fragte er den Drogisten, „haben Sie etwas, um Wolle vor Motten zu schützen?“
„Gewiss, wir haben Mottenpulver. Ich kann es sehr empfehlen“, sagte der Drogist.
„Ausgezeichnet!“, sagte Herr Veneranda. „Dann geben Sie mir zwei Strang Wolle.“
„Aber“, fragte der Drogist verwundert, „wollten Sie denn nicht Mottenpulver?“
„Ich möchte vor allen Dingen Wolle“, sagte Herr Veneranda, „ich kann doch nicht mit Mottenpulver stricken. Stricken Sie mit Mottenpulver?“
„Aber“, stotterte der Drogist, „Sie haben mich um etwas gebeten, das Wolle vor Motten schützt.“
„Welche Wolle?“, fragte Herr Veneranda. „Wenn ich Wolle vor Motten schützen soll, so geben Sie mir doch Wolle!“
„Ich verkaufe keine Wolle“, sagte der Drogist, „ich verkaufe Mottenpulver.“
„Sie verkaufen Sachen, die zu nichts nütze sind“, sagte Herr Veneranda, „wahrscheinlich haben Sie nicht einmal Motten.“
Und Herr Veneranda verließ das Geschäft und warf schimpfend die Tür zu.
Die Fahrradglocke
Herr Veneranda blieb an der Straßenecke stehen und zog aus der Tasche eine Fahrradglocke, mit der er zu läuten begann.
„Entschuldigen Sie“, sagte ein Vorübergehender, „warum läuten Sie?“
„Ja, aber…“, sagte Herr Veneranda und schaute ihn erstaunt an, „ich verstehe nicht, was Sie sagen wollen. Was haben Sie gesagt?“
„Ich habe Sie gefragt, warum Sie läuten“, sagte der Passant und deutete auf die Glocke in der Hand des Herrn Venenda.
„Das ist großartig!“ sagte Herr Veneranda, „ich läute, weil sie zum Läuten da ist. Zu was werden Glocken gemacht? Um zu läuten, nicht? Was glauben Sie, dass die Glocken sonst tun sollen? Diese da ist neu, oder wenigstens fast neu, also ist es logisch, dass sie läutet. Wenn sie kaputt wäre, würde sie nicht läuten. Aber sie ist nicht kaputt. Schauen sie selbst.“
„Aber…“, stotterte der Passant, der nicht mehr wusste, was er sagen sollte, „ich frage Sie, warum Sie die Glocke läuten.“
„Fragen Sie eigentlich immer so blöd?“ sagte Herr Veneranda. „Begreifen Sie nicht, dass die Glocken zum Läuten da sind? Oder was täten Sie mit einer Glocke? Glauben Sie, dass sie zu irgend etwas anderem gemacht sind?“
„Nein, nein“, stotterte der Herr, „aber Sie fahren doch nicht Rad, und das ist doch eine Fahrradglocke.“
„Ja, aber auch die Glocke fährt nicht Rad“, sagte Herr Veneranda, „und wenn die Glocke nicht auf dem Rad ist, kann ich doch nicht aufsteigen, um sie zu läuten, finden Sie nicht?“
„Ich weiß nicht…“, stammelte der Passant.
„Jetzt werde ich aber gleich die Geduld verlieren“, schrie nun Herr Veneranda los, „glauben Sie, ich habe meine Zeit gestohlen?“
Herr Veneranda ging weiter und läutete unbeirrt seine Fahrradglocke.
Signor Veneranda schaut aus dem Fenster
Signor Veneranda läutete und eine Frau öffnete die Tür. „Was wünschen Sie?“ fragte die Frau Signor Veneranda.
„Verzeihen Sie“, sagte Signor Veneranda, „dürfte ich einen Augenblick aus dem Fenster schauen?“
„Aber.......“, antwortete die Frau erstaunt.
„Einen Augenblick nur, ganz kurz.“
„Wenn Sie unbedingt wollen, kommen sie herein, wenn ich auch, ehrlich gesagt, nicht verstehe....“
„Was verstehen Sie nicht?“ fragte Signor Veneranda.
„Warum Sie aus dem Fenster schauen wollen“, antwortete die Frau.
„Na ja“, sagte Signor Veneranda, „hie und da kommt‘s eben vor, dass man aus dem Fenster schauen muss. Nicht dass ich pausenlos hinausschaue.“
„Ja, aber“, sagte die Frau, „ich verstehe nur nicht, warum Sie ausgerechnet aus meinem Fenster schauen wollen.“
„Ich will absolut nicht aus Ihrem Fenster schauen“, sagte Signor Veneranda. „Wer hat Ihnen gesagt, dass ich aus Ihrem Fenster schauen will?“
„Ich dachte, Sie wollten hereinkommen, um aus meinem Fenster zu schauen“, sagte die Frau.
„Wenn Sie unbedingt wollen, kann ich‘s ja tun“, sagte Signor Veneranda, „aber zu Hause habe ich schließlich auch Fenster zum Hinausschauen, warum soll ich dann Sie stören.“
„Wenn Sie wollen.... es stört mich nicht....“, stammelte die Frau.
„Danke“, sagte Signor Veneranda, „aber ich gehe lieber nach Hause. So großartig werden Ihre Fenster gar nicht sein, dass ich unbedingt hinausschauen müsste.“
„Ich....“, stotterte die Frau.
„Ich danke Ihnen schön, aber ich habe keine Zeit mehr“, sagte Signor Veneranda, „wenn Sie unbedingt wollen, kann ich ja ein anderes Mal kommen und aus Ihrem Fenster schauen.“
Freundlich grüsste Signor Veneranda die Frau und ging.
Die leere Wohnung
Signor Veneranda läutete die Türglocke und wartete. Da niemand kam, um ihn einzulassen, läutete er viele Male, bis ein Herr die Treppe herunterkam und ihm sagte, dass die Wohnung leer sei.
„Leer?“ fragte Signor Veneranda, „sind auch keine Möbel drin?“
„Die Möbel sind wohl drin“, sagte der Herr, „aber die können nicht an die Tür gehen und aufmachen.“
„Auch wenn sie es könnten, interessiert es mich nicht“, sagte Signor Veneranda, „ich will gar nicht, dass mir aufgemacht wird. Wenn ich wollte, dass man mir aufmacht, würde ich an der Wohnung gegenüber läuten. Ich bin sicher, dass diese bewohnt ist.“
„Sie wussten also, dass da niemand drin ist?“ fragte der Herr, der langsam begriff, dass er nichts verstand.
„Sicher wusste ich es,“ sagte Signor Veneranda, „und gerade deswegen habe ich geläutet. Wenn Leute drin wären, würde ich mich hüten, zu läuten.“
„Ich verstehe nicht“, stotterte der Herr.
„Läuten Sie bei Leuten, die Sie nicht kennen?“ fragte Signor Veneranda.
„Natürlich nicht“, sagte der Herr.
„Ich auch nicht“, sagte Signor Veneranda. „Da ich also die Leute, die in dieser Wohnung hausen, nicht kenne, hüte ich mich auch, zu läuten, wenn sie wirklich zu Hause sind.“
„Und wenn sie nicht zu Hause sind?“
„Wenn sie nicht zu Hause sind, sind sie eben nicht da und kommen nicht aufmachen, ist das klar?“ sagte Signor Veneranda.
„Leider nicht..........“, stotterte der Herr, überwältigt von der seltsamen Logik.
„Leider nicht, leider nicht........“, schrie Signor Veneranda, weil er die Geduld verlor, „Sie sind ein alter Schwätzer, sonst nichts!“
Und Signor Veneranda zuckte die Achseln und stieg brummend die Treppen hinunter.
Ein dreister Kunde
Signor Veneranda trat in einen Kurzwarenladen und verlangte von der Verkäuferin, die ihm entgegenkam, ein Taschentuch.
„Was für ein Taschentuch möchten Sie haben?“, erkundigte sich die Verkäuferin, nahm einige Schachteln von den Regalen und zeigte verschiedene Arten von Taschentüchern.
„Irgendein Taschentuch“, sagte Signor Veneranda. Er nahm ein Taschentuch aus der Schachtel, faltete es auseinander, putzte sich die Nase und gab es der Verkäuferin zurück.
„Aber …“, stammelte die Verkäuferin zurück.
„Was heißt aber?“ fragte Signor Veneranda.
„Sie haben es benutzt“, sagte die Verkäuferin und nahn das Taschentuch vorsichtig zwischen zwei Finger, „Sie haben das Taschentuch benutzt, um sich die Nase zu putzen!“
„Was hätte ich mir denn mit dem Taschentuch putzen sollen? Vielleicht die Ohren?“ fragte Signor Veneranda verwundert. „Was putzen Sie sich mit Taschentüchern?“
„Die Nase“, stotterte die Verkäuferin. „Aber jetzt müssen Sie das Taschentuch auch kaufen.“
„Warum sollte ich Taschentücher kaufen? Ich brauche keine“, sagte Signor Veneranda.
„Wieso nicht, Sie haben doch ein Taschentuch verlangt“, sagte die Verkäuferin.
„Gewiss, aber nur, um mir die Nase zu putzen“, sagte Signor Veneranda. „Was machen Sie denn mit Taschentüchern?“
„Ich verkaufe sie“, sagte die Verkäuferin.
„Ausgezeichnet“, erwiderte Signor Veneranda. „Man sieht, dass Sie es nicht nötig haben, sich die Nase zu putzen. Aber entschuldigen Sie eine die indiskrete Frage: Wenn Sie Taschentücher verkaufen und sich doch einmal die Nase putzen müssen, womit machen Sie es dann?“
„Ich … ich …“, stammelte die Verkäuferin, die nicht mehr wusste, was sie sagen sollte.
„Wollen Sie es mir nicht verraten? Dann eben nicht“, sagte Signor Veneranda. „Übrigens will ich es nicht unbedingt wissen. Putzen Sie sich die Nase, womit Sie wollen. Auf Wiedersehen!“
Und Signor Veneranda kehrte der Verkäuferin den Rücken und verließ den Laden.
Wermut im Barbierladen
Signor Veneranda ging in einen Barbierladen, setzte sich in den Sessel und verlangte einen Wermut.
„Wie bitte?“ fragte der Barbier, der glaubte, falsch verstanden zu haben.
„Ich habe gesagt, einen Wermut“, wiederholte Signor Veneranda, „mir scheint, ich habe deutlich gesprochen.“
„Aber ich bin ein Friseur“, antwortete der Barbier erstaunt, „ich kann Ihnen die Haare schneiden und ich kann Sie rasieren, aber Wermut habe ich keinen.“
„Ja, glauben Sie denn, dass, wenn einer einen Aperitif will, er sich die Haare scheiden oder sich rasieren lässt?“ fragte Signor Veneranda.
„Das nicht“, sagte der Frieseur, „dann geht er statt zum Friseur in die Bar an der Ecke.“
„Und Sie glauben im Ernst, dass in der Bar an der Ecke Haare geschnitten werden und rasiert wird?“ fragte Signor Veneranda. „Sie träumen wohl. Ich war vor ein paar Minuten dort und da haben sie mich fast hinausgeworfen.“
„Aber in der Bar bekommen Sie Ihren Wermut“, stotterte der Barbier, der nicht mehr wusste, was er sagen sollte.
„Ich habe einen langen Bart“, sagte Signor Veneranda.
„Den kann ich Ihnen abmachen, aber den Wermut nicht“, sagte der Friseur.
„Habe ich vielleicht von Ihnen verlangt, mir einen Wermut abzumachen?“ schrie Signor Veneranda und verlor die Geduld. „Schau einer an, was Sie für eine Type sind? Also gut, dann mache ich ihn zu Hause selber ab.“
Signor Veneranda stand auf und verließ brummend den Laden.
Der Urlaub
Signor Veneranda stimmte mit einem Kopfnicken seiner Frau zu: „Sicher, das Meer ist etwas Herrliches und man kann sich nichts Schöneres wünschen, als einen Urlaub am Strand zu verbringen.“
„Großartig“, sagte die Frau des Signor Veneranda, „dann fahren wir also ans Meer.“
Signor Veneranda schaute seine Frau an. „Allerdings“, sagte er, „im Gebirge ist es auch schön. Die frische Luft, die Ruhe, wunderbare Spaziergänge …“
„Ja, dann“, sagte die Frau des Signor Veneranda, „entschließen wir uns und gehen ins Gebirge.“
„Warum? Magst du das Meer nicht?“ fragte Signor Veneranda. „Liegst du nicht gern in der Sonne?“
„Doch, ich mag das Meer und die Sonnenbäder, aber du hast gesagt, dass du lieber ins Gebirge gehst.“
„Ich habe nicht gesagt, dass ich lieber ins Gebirge gehe, ich habe nur gesagt, dass die Berge sehr schön sind.“
„Dann gehen wir ans Meer“, sagte die Frau des Signor Veneranda.
„Gut, gehen wir ans Meer, wenn dir das Gebirge nicht gefällt.“
„Ich habe gesagt, dass mir das Gebirge nicht gefällt?“
„Hast du nicht gesagt, gehen wir also ans Meer?“ fragte Signor Veneranda. „Wenn du beschlossen hast, ans Meer zu gehen, heißt das, dass du das Meer dem Gebirge vorziehst.“
„Aber keineswegs“, erwiderte die Frau des Signor Veneranda, „ich habe doch nicht gesagt, dass ich das Meer dem Gebirge vorziehe.“
„Also dann“, sagte Signor Veneranda, „gehen wir ins Gebirge, wenn du die Berge dem Meer vorziehst.“
„Aber ich ziehe das Gebirge dem Meer gar nicht vor“, stotterte die Frau des Signor Veneranda.
„Ja, zum Teufel“, schrie Signor Veneranda verzweifelt, „kann man endlich erfahren, was du vorziehst, das Meer oder das Gebirge? Vielleicht entschließt du dich endlich einmal!“
„Mir ist es gleich“, seufzte die Frau des Signor Veneranda, entscheide du.“
„Gehen wir ans Meer?“
„Gehen wir ans Meer.“
„Aber denke daran, dass es auch im Gebirge wunderschön ist.“
„Dann gehen wir ins Gebirge.“
„Verdammt noch mal!“ schrie Signor Veneranda, „du weißt ja nie, was du willst! Erst das Meer, dann das Gebirge… Bist du wirklich nicht imstande, eine vernünftige Entscheidung zu treffen?“
Signor Veneranda stülpte seinen Hut auf den Kopf und ging zur Wohnungstür.
„Sag es mir, wenn du dich entschieden hast, sonst kann´s passieren dass wir den Urlaub in der Stadt verbringen. Ist das klar?“